Demokratie und Rechtsstaat

Auf­grund der Coro­na-Kri­se wur­de den Bür­gern zahl­rei­che Ein­schrän­kun­gen auf­er­legt. Bemer­kens­wert ist hier, dass kaum ein Jour­na­list und auch kaum ein Poli­ti­ker sich mit der juris­ti­schen Recht­mä­ßig­keit auseinandersetzt.

Die aktu­el­len Maß­nah­men der Regie­rung Decroo zie­hen die Auf­merk­sam­keit auf sich, weil sie die wesent­li­chen Grund­rech­te erschüt­tern, wie sie in der bel­gi­schen Ver­fas­sung fest­ge­legt sind. Und das dürf­te schlicht­weg nicht mög­lich sein, wie die Ver­fas­sung selbst unmiss­ver­ständ­lich besagt: Arti­kel 187 — “Die Ver­fas­sung darf weder ganz noch teil­wei­se aus­ge­setzt werden”.

Die bel­gi­sche Ver­fas­sung garan­tiert das Grund­prin­zip der Gewal­ten­tei­lung zwi­schen dem gewähl­ten Par­la­ment einer­seits, zustän­dig zur Aus­ar­bei­tung von Geset­zen, und der Regie­rung ande­rer­seits, beauf­tragt zu deren Umset­zung. Auch bekannt als Legis­la­ti­ve und Exekutive.

Ein Erlass ist kein Gesetz, son­dern eine Art Aus­füh­rungs­be­stim­mung. Durch Minis­te­ri­el­le Erlas­se erge­ben sich nun­mehr seit März die­sen Jah­res Maß­nah­men zur Ein­schrän­kung der Grund­frei­hei­ten. Die­se Ver­ord­nun­gen müs­sen, gemäß Arti­kel 105 und 108 der Ver­fas­sung, eine recht­li­che Grund­la­ge haben, also auf einem Gesetz, bei­spiels­wei­se einem Dekret, basie­ren. Erlas­se unter­lie­gen der vor­ge­schrie­be­nen, vor­he­ri­gen Stel­lung­nah­me durch die Gesetz­ge­bungs­ab­tei­lung des Staats­ra­tes. Es sei denn es liegt eine zwin­gen­de Dring­lich­keit vor, die eine unver­züg­li­che Akti­on erfor­dert, und die­se unver­ein­bar ist mit den fünf Arbeits­ta­gen, inner­halb derer die recht­li­che Ana­ly­se des Staats­ra­tes erfol­gen kann. So weit, so gut.

Die im Zusam­men­hang mit Coro­na ver­öf­fent­li­chen Erlas­se basie­ren auf Arti­kel 4 des Zivil­schutz­ge­set­zes vom 31. Dezem­ber 1963, Arti­kel 11 des Geset­zes vom 5. August 1992 über das Poli­zei­amt, sowie die Arti­kel 181, 182 und 187 des Geset­zes über die zivi­le Sicher­heit. Die­se Bestim­mun­gen könn­ten mög­li­cher­wei­se einen aus­rei­chen­den recht­li­chen Rah­men für punk­tu­el­le Inter­ven­tio­nen des Innen­mi­nis­ters bil­den, um einer plötz­li­chen Gefahr zu begeg­nen, dies aber nur für eine begrenz­te Zeit.

Nach­dem die Kri­se nun schon fast acht Mona­te andau­ert und wohl noch vie­le Mona­te andau­ern wird, erfor­dern die Grund­prin­zi­pi­en unse­res demo­kra­ti­schen Sys­tems, dass die im Zuge des Kri­sen­ma­nage­ment zu tref­fen­den Ent­schei­dun­gen im par­la­men­ta­ri­schen Rah­men erfol­gen. Mit ande­ren Wor­ten, war anfäng­lich das Not­fall­re­gime eine kurz­fris­ti­ge Lösung, so muss die­ser ver­all­ge­mei­ner­te Dau­er-Aus­nah­me­zu­stand einer demo­kra­ti­schen Poli­tik wei­chen, die auf einer mit­tel- und lang­fris­ti­gen Stra­te­gie basiert. Außer­dem scheint es heu­te kei­ne Recht­fer­ti­gung mehr zu geben den Staats­rat sys­te­ma­tisch zu umge­hen, obschon die­ser wie bereits erwähnt, in der Lage ist, sei­ne Mei­nung inner­halb von 5 Tagen zu äußern.

Doch im letz­ten Halb­jahr hat sich der Aus­nah­me­zu­stand auf dem Ver­ord­nungs­we­ge zur Regel ent­wi­ckelt. Der ein­zi­ge Prä­ze­denz­fall zur jet­zi­gen Situa­ti­on sind die bei­den Welt­krie­ge, mit dem klei­nen Unter­schied, dass die Besat­zungs­trup­pen sich logi­scher­wei­se nicht an an die bel­gi­sche Ver­fas­sungs­rechts­ord­nung gebun­den sahen.

Dass die Maß­nah­men der Regie­rung immense Ein­grif­fe in die Grund­rech­te dar­stel­len, bestrei­tet die Exe­ku­ti­ve ja auch gar nicht. Sie tut aber ein­fach nicht den zwei­ten Schritt. Die­ser müss­te dar­in bestehen, sich von der gesetz­ge­ben­den Legis­la­ti­ve die Recht­mä­ßig­keit des eige­nen Tuns bestä­ti­gen zu lassen.
Nicht umsonst haben 25 Ver­fas­sungs­exper­ten die­sen Zustand in einem offe­nen Brief auf­ge­zeigt und die unver­ant­wort­li­che Hand­ha­bung die­ser Situa­ti­on angeprangert.1

Im Prin­zip leben wir ja in einem demo­kra­ti­schen Rechts­staat. Aus gutem Grund ist „Rechts­staat“ das Sub­stan­tiv, „demo­kra­tisch“ nur das Adjek­tiv. Um das Zitat von Ben­ja­min Frank­lin etwas anzupassen:
Demo­kra­tie ist, wenn zwei Wöl­fe und ein Schaf dar­über abstim­men, was es zum Abend­essen gibt. Rechts­staat ist, wenn das Schaf das Abend­essen überlebt.

Eine Gesell­schaft wird als Rechts­staat betrach­tet, wenn zwei Bedin­gun­gen erfüllt sind:
Ers­tens ist jeg­li­che Hand­lung von staat­li­chen Behör­den an Recht und Gesetz gebun­den. Die Befug­nis des Staa­tes ist durch die Grund­rech­te und Grund­frei­hei­ten der Bür­ger ein­ge­schränkt. Behörd­li­che Will­kür ist ausgeschlossen.
Zwei­tens muss es in einem Rechts­staat Mit­tel geben, derer Bür­ger sich bedie­nen kön­nen, um ihre Rech­te und Frei­hei­ten gegen­über ihren Mit­bür­gern oder den Behör­den durchzusetzen.

Die not­wen­di­ge Debat­te über einen geeig­ne­ten Rechts­rah­men für die ergrif­fe­nen und zu ergrei­fen­den Coro­na-Maß­nah­men muss ganz oben auf die poli­ti­sche Tages­ord­nung gesetzt wer­den. Die par­la­men­ta­ri­sche Kon­trol­le ist um so not­wen­di­ger, um Sank­tio­nen für die Nicht­ein­hal­tung vor­zu­se­hen, da die Ver­fas­sung den Grund­satz “kei­ne Stra­fe ohne Gesetz” garan­tiert (Arti­kel 14: Eine Stra­fe darf nur auf­grund des Geset­zes ein­ge­führt oder ange­wandt wer­den). Schließ­lich sind, wie ein kürz­lich ergan­ge­nes Urteil des Poli­zei­ge­richts Char­le­roi gezeigt hat, alle Urtei­le auf der Grund­la­ge des bestehen­den Ent­schei­dungs­pro­zes­ses unrecht­mä­ßig, und das ver­grö­ßert das Cha­os nur noch mehr. Der Staats­rat nimmt sei­nen Job als Kon­troll­organ der Regie­rung lei­der auch nicht wahr und ver­mit­telt mit­un­ter den Ein­druck als wür­de die­se kor­rekt han­deln. Das Brüs­se­ler Beru­fungs­ge­richt hat am 28. Okto­ber ein Urteil gefällt, dem­zu­fol­ge die Regie­rung die Nütz­lich­keit der Maß­nah­men nach­wei­sen und die Inak­ti­vi­tät in Sachen Geset­zes­in­itia­ti­ve begrün­den soll. Die Regie­rung hat bis dato nicht reagiert.

Dies unter­gräbt nicht nur die Wirk­sam­keit, son­dern vor allem die Glaub­wür­dig­keit der Politik. 
Der Viro­lo­ge Ste­ven Van Gucht wies kürz­lich dar­auf hin, dass die­se Kri­se noch lan­ge nicht vor­bei ist und sicher­lich bis zum nächs­ten Som­mer andau­ern wird. Der Viro­lo­ge Hen­drik Stre­eck erklär­te sogar, dass wir uns ehr­lich ein­ge­ste­hen müs­sen, dass die­ses Virus uns die nächs­ten Jah­re beglei­ten wird.

Die poli­ti­sche Will­kür muss drin­gend ein Ende haben. Dazu sind die Wie­der­her­stel­lung der Ver­fas­sungs­mä­ßig­keit, eine trans­pa­ren­te par­la­men­ta­ri­sche und öffent­li­che Debat­te, sowie die Schaf­fung eines geeig­ne­ten recht­li­chen Rah­mens für alle Maß­nah­men unabdingbar.

Dia­na Stiel
Alain Mertes
Micha­el Balter