Unterrichtsministerin Klinkenberg zäumt mit ihrem Laptop-für-alle Projekt das Pferd von hinten auf

 „Küm­mert euch um die Kin­der, nicht um Tablets!“

Bil­dungs­mi­nis­te­rin Lydia Klin­ken­berg (ProDG) kann ihren Stolz nur schwer ver­ste­cken: Ost­bel­gi­en ist um rund 6.000 Lap­tops rei­cher. Die sol­len in der Deutsch­spra­chi­gen Gemein­schaft dafür sor­gen, dass die Digi­ta­li­sie­rung in Sekun­dar­schu­len und der beruf­li­chen Aus­bil­dung ankommt. Dass sie in Wirk­lich­keit wie­der ein­mal ein Pferd von hin­ten auf­ge­zäumt hat, geht der Minis­te­rin und ihren Regie­rungs­kol­le­gen wahr­schein­lich nicht auf. Die 6 Mil­lio­nen Euro (für die ers­ten 3 Jah­re) und die rund 2 Mil­lio­nen an jähr­li­chen Fol­ge­kos­ten hät­te man bes­ser in Schü­ler und Leh­rer in den ost­bel­gi­schen Schu­len inves­tiert. Nicht zuletzt, weil das Geld nicht, wie ange­deu­tet, von der Regie­rung, son­dern von den Steu­er­zah­lern kommt.

Ein Super­wahl­jahr steht 2024 an. Da haben Geschen­ke an die Bür­ger gera­de Hoch­kon­junk­tur. Aus päd­ago­gi­scher Sicht jeden­falls dürf­te es schwer­fal­len, die kos­ten­lo­se Aus­stat­tung von Leh­rern und Schü­lern mit Lap­tops zu recht­fer­ti­gen. Ein in die­sem Jahr vor­ge­leg­ter Bericht der für Bil­dung, Wis­sen­schaft und Kul­tur zustän­di­gen Orga­ni­sa­ti­on der Ver­ein­ten Natio­nen (UNESCO) kommt zu dem Schluss, dass digi­ta­le Gerä­te sogar den Unter­richt stö­ren und die Schü­ler ablen­ken kön­nen. Die­ses Risi­ko betref­fe vor allem leis­tungs­schwa­che Schü­ler, die durch den Ein­satz digi­ta­ler Gerä­te laut der Stu­die sogar wei­ter benach­tei­ligt wer­den kön­nen. Die Nut­zung von digi­ta­len Gerä­ten ver­stär­ke den ohne­hin viel zu hohe Beschäf­ti­gung mit digi­ta­len Medi­en in benach­tei­lig­ten sozia­len Schich­ten, bele­gen Stu­di­en. Laut jüngs­ten Erhe­bun­gen liegt die Nut­zung von digi­ta­len Medi­en bei Jugend­li­chen bei bis zu 68 Wochenstunden!

Lei­der gehen Minis­te­rin Lydia Klin­ken­berg und ihre Regie­rungs- sowie Mehr­heits­kol­le­gen offen­sicht­lich davon aus, dass Digi­ta­li­sie­rung an sich ein Fort­schritt ist und dass die Aus­stat­tung von Schü­lern und Leh­rern mit neu­er Hard­ware zwangs­läu­fig einen ver­bes­sern­den Effekt auf die schu­li­sche Leis­tung und ins­be­son­de­re die För­de­rung benach­tei­lig­ter Schü­ler haben muss. Der UNESCO-Bericht wider­legt die­se The­se, wonach alle Jugend­li­chen über den glei­chen Kamm gescho­ren wer­den kön­nen. Viel­mehr gel­te es, die objek­ti­ven Unter­schie­de zwi­schen Schü­lern, Päd­ago­gen und Schu­len zu berücksichtigen.

Noch schwer­wie­gen­der ist aller­dings die Tat­sa­che, dass es kei­ne wis­sen­schaft­li­chen Bele­ge dafür gibt, dass der Ein­satz digi­ta­ler Gerä­te einen posi­ti­ven Ein­fluss „auf den Wis­sens­er­werb und die digi­ta­le Kom­pe­tenz“ hat. Zu die­sem Ergeb­nis kommt auch ein Gut­ach­ten der schwe­di­schen Karo­lins­ka-Uni­ver­si­tät. Im Gegen­teil, hal­ten die Stock­hol­mer Wis­sen­schaft­ler fest, hat „die Digi­ta­li­sie­rung der Schu­len gro­ße, nega­ti­ve Aus­wir­kun­gen auf den Wis­sens­er­werb der Schü­ler“. Der Augs­bur­ger Päd­ago­gik­pro­fes­sor Klaus Zie­rer kommt zu einem ähn­li­chen Befund: „Die flä­chen­de­cken­de Aus­stat­tung aller Schü­le­rin­nen und Schü­ler mit Tablets ist aus erzie­hungs­wis­sen­schaft­li­cher Sicht nicht begründ­bar, viel eher unver­ant­wort­lich“. Die Gelehr­ten der schwe­di­schen Uni­ver­si­tät wer­fen außer­dem der Bil­dungs­be­hör­de vor, die Schu­len bei der Ein­füh­rung der digi­ta­len Gerä­te allein gelas­sen zu haben.

Die glei­chen Vor­wür­fe müs­sen sich auch Minis­te­rin Klin­ken­berg und die DG-Regie­rung gefal­len las­sen. Die Minis­te­rin ver­steckt sich, wie so oft, wenn es heißt, Far­be zu beken­nen, hin­ter der päd­ago­gi­schen Frei­heit der Schu­len. Wenn es dar­um geht, die Schu­len mit Büro­kra­tie zu über­la­den, scheint die päd­ago­gi­sche Frei­heit kein Hin­der­nis zu sein. Der Hin­weis, dass die Auto­no­me Hoch­schu­le und das Minis­te­ri­um den Schu­len bei der Ein­füh­rung der Lap­tops bei Bedarf zur Sei­te ste­hen, ist wohl kaum mehr als eine Schutz­be­haup­tung. In der Pra­xis wird es wohl eher sein wie gewöhn­lich, dass gera­de die Schu­len, die Leh­rer und die Schü­ler, die am meis­ten Hil­fe benö­ti­gen wür­den, im Regen ste­hen blei­ben. Den Preis zah­len wie­der ein­mal die Her­an­wach­sen­den, vor allem die ohne­hin schon Benachteiligten.

Offen­sicht­lich hat man im DG-Unter­richt­mi­nis­te­ri­um vor lau­ter Bäu­men den Wald nicht mehr gese­hen. Am aller­schlimms­ten ist näm­lich die Tat­sa­che, dass der Ein­satz von digi­ta­len Gerä­ten die sowie­so schon viel zu hohe Zeit, die Kin­der und Jugend­li­che vor den Bild­schir­men ver­brin­gen, wei­ter erhöht. In der DG kann die Regie­rung sich viel­leicht noch hin­ter der Behaup­tung ver­ste­cken, der Bericht der UNESCO habe nicht vor­ge­le­gen, als man den Beschluss zur Anschaf­fung und flä­chen­de­cken­den Ver­tei­lung der Lap­tops gefasst habe.

Die­se Ent­schul­di­gung kann aber nicht ins Feld geführt wer­den, wenn die Fra­ge auf den Tisch kommt, was in der Schu­le wich­tig ist. Und dar­an hat sich, Digi­ta­li­sie­rung hin, künst­li­che Intel­li­genz her, nichts ver­än­dert: Neben der Ver­mitt­lung von rei­nem Wis­sen ist der Erwerb ver­schie­de­ner Fähig­kei­ten die Auf­ga­be der Schu­le. Das sehen nicht nur wir von der Vivant-Frak­ti­on im PDG so. Die Kin­der und Jugend­li­chen sol­len in der Schu­le kor­rekt Rech­nen, Lesen und Schrei­ben ler­nen. Sich gut aus­zu­drü­cken, kri­tisch mit Infor­ma­tio­nen umzu­ge­hen, zu argu­men­tie­ren, mit Gleich­alt­ri­gen und Erwach­se­nen zu debat­tie­ren und an die­sen Auf­ga­ben zu wach­sen, soll­te eben­falls in der Schu­le gelehrt wer­den. Selbst Lesen und Schrei­ben und sich kor­rekt aus­zu­drü­cken, das haben die For­schungs­ar­bei­ten von Prof. Klaus Zie­rer von der Uni­ver­si­tät Augs­burg und ande­re Stu­di­en belegt, ler­nen Kin­der wesent­lich bes­ser ana­log — also mit Büchern und Übungs­hef­ten. Zie­rer spricht von einem „Dia­lo­gi­sie­rungs­wahn“.

Statt per­sön­lich­keits- und gemein­schafts­bil­den­den Fähig­kei­ten, im Neu­deut­schen auch „soft skills“ genannt, zu för­dern, ist abseh­bar, dass die mit Lap­tops aus­ge­stat­te­ten Schü­ler noch mehr Zeit allein vor dem Bild­schirm ver­brin­gen. Zukünf­tig auch in der Klas­se. Statt zu spre­chen und Argu­men­te aus­zu­tau­schen, statt sich kri­tisch mit ande­ren Mei­nun­gen aus­ein­an­der zu set­zen, statt von­ein­an­der zu ler­nen, ver­ein­sa­men sie damit auch noch in der Schu­le vor ihrem Lap­top. Dabei könn­te, ja müss­te die Schu­le dazu bei­tra­gen, dass die Kin­der und Jugend­li­chen eine grö­ße­re sozia­le Kom­pe­tenz erwer­ben. Denn die wird in Zei­ten zuneh­men­der Digi­ta­li­sie­rung und vor allem seit dem Auf­kom­men von Künst­li­cher Intel­li­genz und wach­sen­der Ver­ein­sa­mung immer wichtiger.

Gera­de in Zei­ten zuneh­men­der Digi­ta­li­sie­rung müss­te die Schu­le noch mehr den Schwer­punkt auf das Erler­nen von Grund­kennt­nis­sen legen. Das sind in ers­ter Linie Lesen, Schrei­ben und Rech­nen. Dazu gehö­ren Bücher, Hef­te und Stif­te. Die Schu­le soll­te, mehr denn je, zum Gegen­ge­wicht für die im Netz unsor­tiert und unge­fil­tert vor­han­de­nen Inhal­te und Mei­nun­gen wer­den, den jun­gen Men­schen dabei hel­fen, die­ser Nach­rich­ten­flut mit kri­ti­scher Distanz zu begeg­nen, Infor­ma­tio­nen ein­zu­ord­nen und sich selbst­be­wusst im Inter­net und in den Sozia­len Medi­en zu bewegen.

Ja, Medi­en­kom­pe­tenz ist wich­tig, wich­ti­ger denn je. Es ist aller­dings falsch zu glau­ben, dass man Medi­en­kom­pe­tenz beim Sur­fen im Netz im Vor­bei­ge­hen erwirbt. Die Fer­tig­kei­ten, die jun­ge Men­schen brau­chen um sou­ve­rän im Inter­net und den Sozia­len Medi­en zu agie­ren, bau­en auf Grund­kom­pe­ten­zen auf, die Kin­der und Jugend­li­che im direk­ten Umgang mit Men­schen zu Hau­se, in der Schu­le, in den Ver­ei­nen erwer­ben. Für die Schu­len setzt dies aller­dings vor­aus, dass es Päd­ago­gen gibt, die von den Schü­lern als Vor­bild und Auto­ri­tät, auch im Umgang mit digi­ta­len Werk­zeu­gen und Inhal­ten wahr­ge­nom­men wer­den. Lei­der ist das viel zu sel­ten der Fall.

Es wäre also in den Augen von Vivant sinn­vol­ler, in der Schu­le ver­stärkt an die­sen Grund­kom­pe­ten­zen zu arbei­ten und, ergän­zend dazu, in spe­zi­fi­schen Unter­rich­ten den Her­an­wach­sen­den die Fähig­kei­ten zu ver­mit­teln, die sie brau­chen, um sich sicher im Netz zu bewe­gen. Und die Päd­ago­gen gezielt für die­se neu­en Auf­ga­ben aus­zu­bil­den, statt mit Steu­er­geld gekauf­te Lap­tops zu „ver­schen­ken“.

Zu glau­ben, mit der Zur-Ver­fü­gung­stel­lung eines Lap­tops sei­nen Bei­trag zu einem bewuss­ten Umgang der Her­an­wach­sen­den mit der digi­ta­len Welt geleis­tet zu haben, ist ein schwe­rer Feh­ler. In unse­rem digi­ta­len Zeit­al­ter spielt die zwi­schen­mensch­li­che Bezie­hung eine immer bedeu­ten­de­re Rol­le. Es ist hin­läng­lich bekannt, dass eine gute Bezie­hung zwi­schen Leh­ren­dem und Ler­nen­dem eine Grund­vor­aus­set­zung für das Gelin­gen von Unter­richt ist. In die­sen Aspekt kann und soll­te noch mehr inves­tiert wer­den. Des­halb stim­men wir von Vivant unein­ge­schränkt dem inter­na­tio­nal aner­kann­ten Päd­ago­gik­pro­fes­sor Klaus Zie­rer zu, wenn er for­dert: „Küm­mert euch um die Kin­der, nicht um Tablets!“

Im Okto­ber wird Vivant zu die­sem The­ma eine Ver­an­stal­tung durch­füh­ren. Mehr dazu folgt zu einem spä­te­ren Zeitpunkt.

Vivant-Frak­ti­on

Dia­na Stiel, Alain Mer­tes, Micha­el Balter